Rede zur Einweihung des Mahnmals am Panzergraben

Mit großer Dankbarkeit und in tiefer Trauer erinnern wir uns an Carl Osterwald. Ganz speziell seine Rede zur Einweihung des Panzergrabenmahnmals in Aurich im Jahr 2014 bleibt uns in Erinnerung. In ehrendem Gedenken möchten wir diese nochmal veröffentlichen.

Dass wir heute dieses Mahnmal einweihen können, erfüllt mich mit einem unbeschreibbaren Gefühl von Dank und Erleichterung: Was im Herbst und Winter 1944 in aller Öffentlichkeit hier in Aurich und den angrenzenden Dörfern Sandhorst, Wallinghausen und Wiesens geschehen ist, diese grauenhafte, im wahrsten Sinne des Wortes „mörderische“ Behandlung von Männern, darf endlich öffentlich bewusst gemacht werden als das, was es war: als Verbrechen. Man mag noch so viele Gründe anführen, um das im zeitgeschichtlichen Rahmen verstehbar zu machen, was hier geschehen ist, es bleibt ein Verbrechen und es geschah vor aller Augen und keiner griff ein.
Auch damals hatten wir einen Bürgermeister, einen Landrat, es gab einen hochrangigen Offizier als Standortältesten, wir hatten Gerichte, Polizei, eine Zeitung, eine Kirche, Schulen und Lehrer, Kinder und Eltern, ehrenwerte Bürger – ich gehörte dazu, damals 17 Jahre alt – und keiner griff ein. „Es ist geschehen“, so steht es auf der Tafel neben dem Mahnmal. So wahr, wie hier der Graben noch zu sehen ist, so wahr wurden hier Menschen zu Tode gequält.
Und die Bürger Aurichs 1944 waren als Menschen kein Haar anders als wir heute Lebenden. Und Primo Levi hat recht mit seinem Satz: „Es ist geschehen und folglich kann es wieder geschehen.“ Denn wir Menschen sind immer nur Menschen und das heißt immer auch: verführbar zu allem Bösen.

Das Mahnmal ist ein Symbol. Es ist ein Mahnmal und kein Schmuckstück; es ist keine Zierde inmitten dieser schönen umgebenden Natur und es darf auch keine Zierde sein, denn es erinnert daran, dass diese jetzt so schöne Natur im Herbst 1944 kahl und kalt und nass war und dass in dieser kalten Nässe Männer zu Tode geschunden wurden. 188 Männer.
Aus Stahl ist das Mahnmal: hart und kalt. Und hart und kalt sollten wir damals sein, dazu hatte man uns erzogen und so waren auch unsere Vorbilder: hart und kalt, denn es war Krieg und Feinde wollten uns die Freiheit und das Leben nehmen, so sangen wir es, so glaubten wir es – ein gigantischer Betrug – aber wir glaubten und schossen auf unsere Feinde und die schossen auf uns: als Todfeinde standen wir uns gegenüber. Und diese Männer, die hier den Graben ausheben mussten, weil sie gegen Unterdrückung und für die Freiheit aufgestanden waren, sahen wir als Feinde.
Ein gelbes Kreuz wurde ihnen auf die Jacke gemalt, ein Gelb wie auf dieser Stahlfigur: knallig und unpassend. Aber damit konnte man sie einordnen: sie waren dann keine Menschen mehr, sondern „Gelbkreuzler“, ausgestoßen aus der Gemeinschaft der Mitmenschen, freigegeben, sie als Feinde zu sehen und Feinde darf, Feinde muss man töten, und je mehr Feinde du tötest, desto größer dein Ruhm und desto höher dein Orden. Das ist Krieg.
Und das Oberkommando des Heeres – wer war das? Das waren doch auch Menschen, die dachten und planten und zeichneten – entwarf einen Graben, so wie das Mahnmal ihn wiedergibt, darin soll der Feind sich fangen und ihr könnt ihn dann abschießen. Auch dafür gab es einen Orden: ein „Panzervernichtungsabzeichen“, das auf dem Ärmel getragen wurde. Und wer es trug, trug es mit Stolz und war ein Held. So war es, so habe ich es erlebt.

Am 8. Mai 1945 war der Krieg zu Ende. Am Ende dieses Krieges standen nicht Sieg und Niederlage. Am Ende stand ein Berg von Trauer und Leid und stehen für uns Deutsche bis heute Scham und Schuld. Und nur auf dieser Trauer und dieser Scham und Schuld kann Neues wachsen. Wer dies verweigert, wer lieber vergessen und die Erinnerung löschen will, bleibt im Alten hängen und ist verflucht, sich wieder und wieder in Feindschaft zu verstricken. „Es ist geschehen und folglich kann es wieder geschehen“, sagt Primo Levi.

Aber es muss nicht sein; es gibt eine Alternative, einen Weg heraus aus Krieg und Feindschaft. 1948 am 10. Dezember kamen die Nationen dieser Welt zu einer Generalversammlung in New York zusammen und verkündeten nach der Erfahrung des Gemetzels unter den Völkern die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Sie beginnt mit dem Satz: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Die Bundesrepublik Deutschland hat diese Erklärung als Grundrecht in ihre Verfassung aufgenommen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Und der Weltrat der Kirchen kam 1948 in Amsterdam zusammen und erklärte: „Krieg ist gegen Gottes Willen.“
Für einen Augenblick war man sich auf der ganzen Welt einig: Krieg darf nicht sein, Krieg ist verboten. Und jedem Menschen ist mit seiner Geburt eine unzerstörbare Würde mitgegeben. Es ist nicht hinzunehmen, dass die Würde eines Menschen angetastet wird.
Diese Sätze sind eindeutig und unverrückbar. Sie sind aus der Erfahrung des Krieges geboren. Damit sie nicht verblassen und ihre Leuchtkraft behalten, muss auch der Schrecken des Krieges aus der lebendigen Erinnerung Einzelner ins kollektive Gedächtnis eingebrannt werden. Vergesst das nicht: Es ist geschehen, folglich kann es wieder geschehen, deshalb – und dies besonders an die jungen Leute – lasst euch nicht verführen, bleibt auf der Hut. Lasst nicht zu, dass die Würde eines Menschen und sein Recht, in Freiheit zu leben, in Frage gestellt werden.

Carl Osterwald, 2014